Welcher Pferdebesitzer träumt nicht davon, sein Pferd vom ersten Tag an aufwachsen zu sehen? Später möchten stolze Pferdebesitzer selbst das junge Pferd an die ersten Ausrüstungsgegenstände gewöhnen. Schließlich ist das Ziel, wenn alles gut geht, auf einem sicheren, gesunden Pferd über eine Wiese zu galoppieren. Wenn alles gut geht!
Leider geht jedoch viel zu oft irgendetwas schief. Daher ist es Pferdekennern und –experten wie Anja Beran ein Anliegen, uns einen Einblick in ihre tägliche Arbeit und ihre Art mit Pferden umzugehen, zu gewähren. Um mehr über die Pferdeausbildung zu erfahren, hat Alex, unsere Filialleiterin in Villingen-Schwenningen, Anja Berans Seminar besucht.
Unterschiedliche Aufzuchtformen junger Pferde
„Bevor das erste Pferd die Halle betritt, werden wir über die Unterschiede der Aufzuchtformen zwischen Deutschland und Portugal aufgeklärt. In Deutschland ist es üblich, Fohlen sofort an den Menschen zu gewöhnen, Hufe zu geben, geputzt zu werden, etc. Dies hat den Vorteil eines zahmen Tieres. Aber auch schon das Fohlen kann irgendwann ein rüpelhaftes Verhalten an den Tag legen. Es fängt an zu drängeln, zu knabbern und zu schubsen. In Portugal wachsen die Fohlen in einem Herdenverband auf. Menschenkontakt haben die Tiere hier kaum. Diese Pferde haben großen Respekt vor dem Menschen. Sie sind wild und sehr berührungsempfindlich, besonders an den Beinen. Nach circa ein bis zwei Monaten Gewöhnung kann meistens mit der Arbeit begonnen werden.
Bester Zeitpunkt für die Pferdeausbildung
Doch wann beginnen? Im Alter von drei Jahren ist der beste Zeitpunkt, um mit der Pferdeausbildung zu beginnen, meint Anja Beran. Das Pferd hat sich körperlich und seelisch noch nicht voll entwickelt und es ist einfach mit ihm umzugehen. Mit vier Jahren sind die meisten Pferde recht gefestigt und können schneller aufmüpfig werden. Ein besonderes Augenmerk ist auf Stuten zu richten. Das Ausbilden sollte am besten vor dem ersten Fohlen erfolgen. Warum? Stuten erziehen ihr Fohlen, das kann einem Ausbilder die Arbeit erschweren, da sie dies auch beim Menschen versucht.
Die erste Ausrüstung junger Pferde
Zu den ersten Ausrüstungsgegenständen sollten gehören:
- Kappzaum: Anja Beran bevorzugt einen Kappzaum mit nur einem Ring mittig auf der Nase
- Longe mit Lederschnalle: kein Geklapper und sicheres Anleinen
- Sattel: VS oder Springen, dies ermöglicht einen guten Knieschluss, falls es doch zu einem Hopser kommt
- Trense: mit englischem Reithalfter, nie zu eng verschnallen!
- Gerte, Peitsche, Touchierpeitsche
- Gamaschen: um die Vorderbeine vor Verletzungen zu schützen
Wie wird mit der Pferdeausbildung begonnen?
Bei der Pferdeausbildung wird mit dem Führen begonnen. Eine Person führt auf Schulterhöhe. Die zweite Person geht mit Sicherheitsabstand und Touchiergerte treibend hinter dem Pferd. Das Pferd sollte immer vorwärts gehen. Möchte es stehen bleiben, kommt die treibende Hilfe von Person Zwei ganz vorsichtig, um es vorwärts in einem ruhigen Schritt zu bewegen. Klappt dies ohne Probleme, geht es in die Longierhalle. Hier wird wieder zu zweit gearbeitet. Ein Longenführer und ein Peitschenführer. Die Person mit der Peitsche sorgt dafür, dass das Pferd fleißig vorwärts geht und sich nicht umdreht. Klappt dies gut, kann in der Reithalle weiter gearbeitet werden. Hier warten drei Personen als Begrenzungsposten mit Peitschen an der offenen Seite als Sichtbarriere. Das Pferd muss ja erst lernen im Kreis zu laufen und auch dort zu bleiben. Das erste Satteln geschieht erst nach einem mehrmaligen Auflegen des Longiergurtes. Dieser wird bei den ersten drei Versuchen nicht geschlossen, um ein Aufblähen zu vermeiden. Danach wird das Pferd langsam an das Schließen des Gurtes gewöhnt. Geschieht das ohne Probleme, kann mit dem Satteln begonnen werden. Pferde sind neugierig. Sie möchten die Gegenstände, die ihr ihnen anlegt, anschauen und beschnuppern. Zeigt ihnen, was ihr macht. Dies ist wichtig um ein Erschrecken zu vermeiden.
Das erste Satteln und Auftrensen
Das Gurten und Satteln sollte immer in der Halle geschehen. Da Pferde Fluchttiere sind, kann es in einer Box sehr schnell eng werden. Schafft also schon vorher Platz zum Ausweichen. Das erste Auftrensen kann in der Box geschehen. Wählt ein passendes Gebiss aus und begutachtet die Lage im Maul des Pferdes. Für die Gewöhnung solltet ihr euch ein bis zwei Monate Zeit lassen. Geschieht das alles problemlos, kann mit der Belastung des Reitergewichts begonnen werden. Wichtigste Grundvoraussetzung für diesen Schritt ist die absolute Kontrolle an der Longe.
Voraussetzungen und Verhalten des Reiters
Bei der Pferdeausbildung sollte der Reiter, der zum ersten Mal auf das Pferd steigt, leicht und unerschrocken sein. Er muss dem Pferd Sicherheit vermitteln können. Der routinierte Reiter sollte sportlich sein, elastisch und mit guter Körperbeherrschung. Zunächst gibt er keine Hilfen und macht sich so leicht und unsichtbar wie möglich. Er klopft das Pferd nicht am Hals. Erst später gibt er die ersten Hilfen in Absprache mit dem Longenführer.
Die Schenkelhilfe ist in der Pferdeausbildung sehr wichtig
Hierbei ist die Schenkelhilfe sehr wichtig. Ein Pferd versteht nicht, was es bedeutet, wenn ein Mensch sein Bein an seinen Bauch drückt. Das Pferd spannt reflexartig den Bauch an. Kurze Impulse, die das Pferd versteht, müssen sofort ausgesetzt werden, um das Pferd nicht zu irritieren. Der Longenführer muss im richtigen Augenblick mit dem Reiter agieren, um dem Pferd die Hilfen verständlich zu machen. Hat das Pferd die ersten Hilfen verstanden und führt diese aus, muss die Hilfe des Reiters sofort aussetzen. Mit der Handeinwirkung geschieht das genauso. Auf das Kommando „Ho“ wird das Pferd zum Stehen animiert, so wie es ihm gelehrt wurde. In diesem Augenblick nimmt der Reiter die Zügel leicht an, solange bis das Pferd dies verstanden hat. Übungen sollten am Anfang der Pferdeausbildung keine 20 Minuten übersteigen und auch nicht jeden Tag geschehen. Regelmäßiger Koppelgang zur Entspannung ist Pflicht. Später kommen Handwechsel an der Longe mit dem Reiter hinzu.
Was kann das Pferd jetzt schon?
Bis hierhin hat das Pferd schon einiges gelernt!
- Es lässt sich führen.
- Es kennt seine Ausrüstungsgegenstände.
- Es kann ausbalanciert auf dem Zirkel ohne Reiter gehen.
- Es kann sich in allen Grundgangarten auf dem Zirkel ausbalancieren.
- Es kann Reize, die von außen kommen, akzeptieren.
- Es kann das Reitergewicht ausbalancieren.
Das Vorwärtsgehen hat Priorität
Egal, für welchen Einsatz das Pferd später genutzt werden soll: Das Vorwärtsgehen hat Priorität. Dieses ist auch an die Natur des Pferdes angelehnt. Die treibende Hilfe hat auch beim Verladen Sinn, da das Pferd dies akzeptiert und es nur vorwärts geht. Das Wichtigste in der Pferdeausbildung jedoch ist: Niemals sich widersprechende Hilfen geben. Nicht vorne ziehen und hinten treiben. Das kann ein Pferd nicht verstehen. Verspannungen und Probleme sind die Folge. Junge Pferde sollten immer vorwärts geritten werden.
„Hand ohne Bein, Bein ohne Hand!“
Führt das Pferd alle Grundgangarten, halten, stehen bleiben und große Wendungen an der Longe ohne Probleme durch, können die ersten Schritte auch ohne Longe erfolgen. Im ersten Monat lernt das Pferd longieren, Sattel und Zaum kennen, im zweiten Monat gewöhnt es sich an den Reiter und dessen Hilfe an der Longe und im dritten Monat der Pferdeausbildung beginnt das erste freie Reiten. Der Hals des Pferdes dient als Balancierstange und sollte bei einem jungen Pferd niemals in eine Haltung gezwungen werden. Auch ein falsches vorwärts abwärts hegt die Gefahr stark vorhandlastig zu werden. Sinnvoll ist daher, dass sich das Pferd im Stand oder im Schritt am langen Zügel strecken darf.
Das korrekte Aufwärmen
Anja Beran sieht es als völlig falsch an, ein Pferd zum Aufwärmen minutenlang „vorwärts-abwärts“ leichtzutraben. Vielmehr nützt sie zum Aufwärmen des Pferdes Schulter herein, Biegungen, Schulter vor, Kreise etc. Sie möchte die Pferde so geschmeidig machen. Doch dieses muss das junge Pferd erst noch lernen. Wer Pferde auf Auktionen anschaut, lässt sich sehr leicht blenden. Mit hoch aufgerichtetem Hals und stark nach vorne greifenden Vorderbeinen werden die Tiere präsentiert. Doch was passiert, ohne die Stütze Zügel? Anja Beran erklärt dies anhand eines Apfels. Junge Pferde sind wie ungespritztes Obst: gesund und saftig, aber eben nicht so toll anzuschauen wie der reife, runde und gespritzte Apfel. Der Anblick eines jungen Pferdes in der Ausbildung entspricht noch lange nicht dem, eines in sich ausbalancierten, ausgebildeten Pferdes. Die Jungen schwanken und eiern gegen die Bande. Der Hals wird nicht schön getragen, sondern als Balancierstange genutzt.
Ausbildung ohne Zwang zahlt sich aus
Aber eine Ausbildung ohne Zwang zahlt sich aus. Am Ende der Grundausbildung haben diese Pferde gelernt, sich ausbalanciert zu tragen. Zu bedauern ist, das Fehlen der Remonteschulen, in denen sich die Ausbilder speziell für junge Pferde viel Zeit nahmen. Außer ihnen waren keine anderen Pferde in der Halle. Es war leise und mehrere Leute standen zur Verfügung. Heute sieht es anders aus: keine Zeit, kein Platz, um alleine mit dem Pferd zu arbeiten, keine qualifizierten Helfer. Schaut oder hört euch Pferde einmal genau an, die nicht korrekt ausgebildet wurden. Ihr erkennt sie an dem lauten Gang, der schweren Atmung und dem meist viel zu hoch gewählten Tempo.
Schritt ist die Mutter aller Gangarten
Wie beugt man dem vor? Schritt ist die Mutter aller Gangarten. Die Gymnastizierung wird auf die Problematik des Pferdes ausgerichtet. Seitengänge, alle im Schritt, fast schon meditativ ausgeführt, machen das Pferd geschmeidig. Sie fangen an, sich zu versammeln, werden geschmeidig und schließen sich. Das Pferd befindet sich im Gleichgewicht. Erst später werden diese Übungen im Trab und Galopp ausgeführt. In dem Buch „Klassische Reitkunst von Anja Beran“ wird auf die Übungen eingegangen und sehr gut erklärt, wann welche Übung sinnvoll ist. Hat man sich ein junges Pferd ausgesucht, ist ein Gang zu Anja Beran sehr zu empfehlen. Schonendes Arbeiten mit dem Tier und dem Ziel eines in sich ausbalancierten, ausgeglichenen Pferdes.“
Besucht die Bibliothek von Anja Beran!
Die Fahrt hierher lohnt sich ab Juli noch mehr, denn Anja Beran hat eine Bestandsbibliothek eingerichtet. Hier findet jeder Pferdefreund über 400 Bücher zu allen Themen die über Pferde geschrieben wurden. Unter den Büchern werden auch 12 Antiquariate sein. Zu den mehrtätigen Seminaren oder Lehrgängen kann gemütlich im Obergeschoss gelesen, geschmöckert und Cappuccino getrunken werden. Wohlfühlatmosphäre pur.
Und was wäre unser Besuch nicht ohne eine Überraschung? Anja Beran schreibt wieder ein Buch und es ist fast fertig. Soviel darf ich schon verraten: es geht um den Sitz des Reiters, in dem verschiedene Personen aus dem Bereich Tanz, Gesang und Physiotherapie mitgewirkt haben. Nach einem Rundgang mit Anja Beran und einem kurzem Interview, bei sehr leckerem Cappuccino, treten wir die Heimfahrt an. Und wie sollte es anders ein… es regnet wie aus Kübeln.
Viele Grüße eure Alex
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